AS ABOVE, SO BELOW

Spielend mit Zeit und Raum

Wenn Wissen in Gefühle verwandeln wird und die Ungewissheit des Klimawandels zur greifbare Realität.

Was die Klimakrise angeht verfügen wir bereits über alle wissenschaftlichen und technologischen Lösungen, die wir brauchen. Was fehlt, allerdings, ist der Wille und die Vorstellungskraft, ein Leben mit der Krise und Stadträume, die von extremer Hitze geprägt sind, zu imaginieren. Das Herzstück dieses Projekts war das Szenario Berlin 2039, welches ich in Zusammenarbeit mit Francesca Desmarais konzipierte. Die Plakate, die gemeinsam mit Ervin Parashumti entworfen wurden, waren nur Teil eines umfassenderen Projekts, mit dem dieses Szenario greifbar gemacht werden sollte, und zwar indem Menschen eine aktive Rolle spielen und es mitgestalten konnten.
 
Zu diesem Zweck veranstalteten Francesca und ich ein Wochenende lang ein partizipatives Futuring – ein fiktiver Raum, in dem das Szenario durch das Erzählen von Geschichten und spielerischer Performance erkundet werden konnte. Zur Unterstützung dieser Workshops lud ich einen Experten für das Geschichtenerzählen ein: den Schriftsteller, Schauspieler und Doktor für kreatives Schreiben, Geoff Mills.
 
-Juli Sikorska
 
Wie bringt man Leute dazu, sich mit dem Klimawandel zu beschäftigen? Oder, um die Frage etwas anders zu formulieren, wann und warum beschäftigen Leute sich überhaupt mit dem Klimawandel? Wann wird aufrichtiges Interesse ausgelöst, wie provoziert man ehrliche Anteilnahme?
 
Ich vermute dass das, was nicht funktioniert (und für mich hat es ganze 20 Jahre lang nicht funktioniert), ist, Menschen mit Worten zu ertränken. Worte, die in hoher Lautstärke und schrillem Ton auf sie einprasseln. Worte, die einem von der Predigt oder dem Podest entgegengeschleudert werden. Worte, die aus den Seiten einer Zeitung oder Zeitschrift heraus quellen. Da funktionieren Bilder womöglich besser, weil sie eine intuitive Reaktion hervorrufen. Aber Bilder werden schnell zu abstrakt: Allzu einfach lassen sie sich aus dem Zusammenhang reißen und verlieren so schnell an Überzeugungskraft.
 
Juli und ich scheinen uns darin einig zu sein, dass Emotionen am effektivsten angesprochen werden, wenn ein_e Betroffene_r jeweils in die Gegebenheiten eines Szenarios verwickelt ist. Deshalb half ich im Juni bei der Konzeption und Durchführung eines Wochenendprogrammes für kreatives Schreiben und Improvisation, bei dem Teilnehmer ein Bild des Alltags in Neukölln der Zukunft gestalten sollten. Die Teilnehmer schrieben Monologe und Gedichte, Dialoge und Kurzgeschichten. Szenen wurden improvisiert, die sowohl ernst wie humorvoll waren, gleich katastrophal wie komisch. Durch schriftliche Erzählungen und Theaterstücke konnten wir in die Schuhe von Bürger_innen schlüpfen, die in einer klimatisch veränderten Zukunft leben, und unser gemeinsam erdachtes Territorium definieren und erkunden.
 
Es wurden Geschichten über korrupte Technologieunternehmen, Beziehungsprobleme und den Diebstahl dringend benötigter Wasservorräte erzählt. Wir haben uns auch mit moralischen Fragen beschäftigt. Wem gibt man das letzte Wärmepaket? Verteilt man knappe Ressourcen an unbedachte Hitzeschlag-Patienten? Die Teilnehmer_innen improvisierten Werbespots für die neu gewählte Bundeskanzlerin sowie Produkte zur Wärmesicherung von Haus und Haustieren und inszenierten Interviews mit Arbeitnehmer_innen und Bürger_innen in der neuen sozial-ökologischen Wirtschaft, darunter auch ein “Carbon Influencer”. Als Gruppe nahmen wir auch an den Sonnenwendfeiern im Tempelhofer Forst teil, der sich in unserer Zukunftsprojektion zum artenreichsten Gebiet Berlins entwickelt hatte und zum Nährboden für Europas aufregenste Festivals wurde.
 
Francescas ausgedachte Schlagzeilen waren sehr stark in unserer imaginierten Zukunft begründet. Nichts bringt die zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten so gut auf den Punkt wie ein Presseartikel. Zum Beispiel:
 
Netzüberlastung durch illegal gekühlte Nachtclubs und Bars
Berliner lassen Dampf ab und tanzen die tropischen Abende in geheimen underground Nachtclubs mit illegalen Klimaanlagen durch. Die Behörden warnen, dass der unerlaubte Energieverbrauch das Stromnetz überlastet, doch der Beat geht weiter.
 
Der Standort der Workshops eignete sich schließlich sehr für unsere Vorhaben. Als ehemalige Kirche in der Hermannstraße würde der Raum bei einer realen Hitzekrise als ideales Kühlzentrum dienen. Und es war ein heißes Wochenende. In den Pausen saßen Teilnehmer_innen draußern in der Sonne und während der Übungen suchten wir im kühlen Schatten der hallenden Kirche Schutz vor ihr.
 
In den anschließenden Feedback-Runden nannten die Teilnehmer_innen unter anderem Begriffe wie “einsam”, “Schuldgefühl”, “Wut”, “inspiriert”, “frustriert” und “kognitive Dissonanz”, um ihre emotionale Reaktion auf die immersive Erfahrung des Workshops zu beschreiben.
 
Als Moderatorin, die die Szenen beobachtete, konnte ich verfolgen, wie die Charaktere auch eine ganze Reihe anderer Emotionen durchlebten. Es gab Lachen, aber auch Traurigkeit, Verwirrung, Empörung und Panik. Es war ein intensives und bedeutungsvolles Wochenende, aber wir haben etwas Besonderes geteilt, und das wird durch die Tatsache bestätigt, dass viele von uns in Kontakt geblieben sind. Wir haben bereits ein Pub-Quiz-Team gegründet, und künftige Projekte sind im Gespräch.
 
Jahrelang war ich mir der Problematik des Klimawandels zwar bewusst, meist aber unempfindlich ihr gegenüber. Aber jetzt begann ich mich dafür zu engagieren. Die Geschichten, die die Teilnehmer_innen erzählt haben, waren in lokalen Details fundiert und von einem reichen Gefühlsleben geprägt. Aus bloßem Wissen wurde Gefühl, und die Unwägbarkeiten des Klimawandels wurden plötzlich greifbar …real, sogar.
 
Jetzt fühle ich den Alarm. Jetzt spüre ich die Dringlichkeit. Ich spüre die Notwendigkeit zu Handeln und andere dazu zu inspirieren, das auch zu tun. Und wo ich nun verstehe, wie Zeit und Raum auf der Bühne und in Erzählungen instrumentalisiert werden können, um Menschen auf einer emotionalen Eben zu erreichen, kann ich damit vielleicht beginnen, das, was Menschen bereits über die Klimakrise wissen, in etwas umzuwandeln, das sie fühlen.
 
-Geoff Mills
 
Mehr zu Juli Sikorskas Projekt »Urban Heat Island Living: Berlin Neukölln«

GEOFF MILLS ist Schriftsteller, Schauspieler und Doktor für kreatives Schreiben.   JULI SIKORSKA ist eine polnisch-deutsche Designerin. Sie studierte Mensch-Computer-Interaktion und Environmental Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München und am Massachusetts Institute of Technology, Boston. Ihre immersiven Arbeiten waren u. a. zu sehen im: Design Museum, London (2020) und ACUD MACHT NEU, Berlin (2017). Das Projekt »Urban Heat Island Living« ist ein mehrteiliges, fortlaufendes Forschungsprojekt. Bisher wurde es im Rahmen von DOX Centre for Contemporary Art x Uroboros Bites, Prag (2020, unter dem Titel »Working from Home 2026«) und am Rachel Carson Center for Environment and Society, München (2019) realisiert.